Gewissen vor Gehorsam – Dietrich Bonhoeffer und der Mut des Glaubens

Die Frage, wie sich Christen zwischen dem Gehorsam gegenüber der Obrigkeit und ihrem Gewissen entscheiden sollen, ist nicht neu. Tatsächlich ist sie so alt wie die (christliche) Religion selbst. Doch für wenige war das Spannungsfeld zwischen Gehorsam, Gewissen und Glauben so bestimmend wie für Dietrich Bonhoeffer. Sein Beispiel inspiriert bis heute christliche Gemeinden auf der ganzen Welt.

Wer war Dietrich Bonhoeffer?

Dietrich Bonhoeffer war ein 1906 in Breslau geborener evangelischer Theologe, der bereits früh die durch den Nationalsozialismus drohende Gefahr erkannte und sich mutig gegen diese stellte. So kritisierte er bereits ab 1933 die Verfolgung der Juden im Deutschen Reich und setzte sich für religiöse Toleranz ein.

Berühmtheit erlangten dabei Sätze wie: „Nur wer für die Juden schreit, darf gregorianisch singen.“ Er nahm zudem eine führende Position in der Bekennenden Kirche ein, die gegen die Gleichschaltung der Kirchenpolitik durch das nationalsozialistische Regime opponierte. Bonhoeffer war auch Teil der Widerstandsbewegung um den deutschen Admiral Wilhelm Canaris und erhielt in Deutschland zuerst Rede- und schließlich auch Schreibverbot. 1943 kam es zu  Bonhoeffers Verhaftung durch die Geheime Staatspolizei (Gestapo) wegen seiner Verbindungen zum Widerstand. Zwei Jahre später erfolgte – auf direkten Befehl Adolf Hitlers – kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs die Hinrichtung des Theologen.

Gehorsam: Pflicht und Grenzen

Gehorsam spielt in der Bibel eine wichtige Rolle. So ruft die Heilige Schrift zur Treue gegenüber Gottes Willen und Geboten auf. Laut Bonhoeffer gibt es für Christen auch eine allgemeine Pflicht zum Gehorsam gegenüber Obrigkeit und Kirche. Der Begriff ist bei dem Theologen in dessen Schriften oft positiv konnotiert, etwa wenn er schreibt: „Gehorsam weiß, was gut ist, und tut es.“

Allerdings stellt Bonhoeffer auch klar, dass Gehorsam gegenüber Menschen nie an die Stelle des Gehorsams gegenüber Gott treten darf. Insbesondere verwirft er den als Treue missverstandenen blinden Gehorsam, wie ihn auch große Teile der deutschen Kirche gegenüber dem Nationalsozialismus übten. Stattdessen stellte er sich in die Tradition von Martin Luther.

Dementsprechend führt er aus, dass bei Christen die Pflicht zum Gehorsam Grenzen hat. Diese „bindet ihn solange, bis die Obrigkeit ihn direkt zum Verstoß gegen das göttliche Gebot zwingt.“ Dann kann der Gehorsam gegen Gott und die christliche Ethik auch den Ungehorsam gegen die Obrigkeit erzwingen.

Gewissen: an das Gesetz gebunden oder befreit

Für Bonhoeffer nimmt das Gewissen eine höhere Position ein als das Gesetz. Um das zu begründen, beruft sich der Theologe auf Jesus: „Um Gottes und der Menschenwillen wurde Jesus zum Durchbrecher des Gesetzes: er brach das Sabbathgesetz (sic!) um es in der Liebe zu Gott und Mensch zu heiligen.“

Dabei ist es wichtig, Bonhoeffers Gewissensbegriff näher zu analysieren. Für Bonhoeffer handelt es sich nämlich nicht durchweg um einen positiven Begriff. Das wird deutlich, wenn er ausführt, dass es sich letztlich um ein Resultat des Sündenfalls handelt und negative Konsequenzen haben kann: „Das Gewissen treibt den Menschen von Gott weg in das gesicherte Versteck. Hier in der Gottesferne spielt er dann selbst den Richter und weicht eben hierdurch dem Gericht Gottes aus.“ Für den Theologen handelt es sich um ein an das (menschliche) Gesetz gebundenes Gewissen, das so per se unvollkommen sein muss.

Ganz anders sieht es aber aus, wenn Bonhoeffer auf eine alternative, befreite Gewissensform eingeht: „Nicht ein Gesetz, sondern der lebendige Gott und der lebendige Mensch, wie er mir in Jesus Christus begegnet, ist Ursprung und Ziel meines Gewissens.“ Diese Gewissensart muss in Opposition zur nationalsozialistischen Ideologie stehen: „Das befreite Gewissen ist nicht ängstlich, wie das an das Gesetz gebundene, sondern weit geöffnet für den Nächsten und seine konkrete Not.“ Dementsprechend wird für Bonhoeffer der Protest gegen das Nazi-Regime und das Einstehen für Unterdrückte zur christlichen Gewissenspflicht.

Gebete: Kraft, die Stärke bietet

Das Festhalten an seinen Überzeugungen muss Bonhoeffer viel Kraft gekostet haben. Schließlich opponierte er nicht nur gegen die weltliche Obrigkeit, sondern auch gegen große Teile der offiziellen deutschen Kirche, die sich nach der angeblich gottlosen Weimarer Republik eine Rechristianisierung der Gesellschaft erhofften.

Die dafür notwendige Kraft schenkten dem Theologen sein Glaube und starke Gebete wie das Vater unser. Denn „die Kraft des Menschen ist das Gebet“, so Bonhoeffer. So war er in der Lage, Widerstand zu leisten, der sich nicht nur auf einfachen Widerspruch oder symbolische Akte beschränkte. Durch seine Mitarbeit in der Widerstandsbewegung ging sein Handeln auch über einfachen zivilen Widerstand hinaus.

Glaube vs. Gehorsam

Das Spannungsfeld von Glaube und Gehorsam löst Bonhoeffer in einem berühmten Zitat auf: „Nur der Glaubende ist gehorsam, und nur der Gehorsame glaubt.“ Hierbei scheint es sich nur auf den ersten Blick um ein Paradox zu handeln. Hier geht es nicht um blinden Gehorsam bezüglich menschlicher Gesetze und opportunistische Glaubensbekundungen ohne wahre Überzeugung.

Beide Aussagen gehören untrennbar zusammen – wie Bonhoeffer selbst betont. Zwar wird echter Glaube durch Gehorsam sichtbar. Echter Gehorsam entsteht aber umgekehrt erst durch diesen. Das bedeutet wiederum: Ohne echten Glauben ist Gehorsam nur eine leere Hülle – etwa wie der Gehorsam gegenüber dem Nazi-Regime, der offensichtlich nicht mit den christlichen Werten vereinbar sein kann.

Wer glaubt, kann laut Bonhoeffers Auffassung die Gräueltaten der Nationalsozialisten nicht tatenlos betrachten: „Glauben heißt bedingungslos trauen und wagen.“ Es handelt sich hier also nicht um einen bequemen Glauben, im stillen Kämmerlein, sondern um einen mutigen. Warum mutig? Weil sich Bonhoeffer der realen Gefahr bewusst ist und sie in bester Luther-Tradition eingeht – ganz nach dem berühmten Motto des Reformators: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“