Gebete, die den Namen Judas einschließen? Schwer vorstellbar. Christliche Symbole mit Judas als Sympathieträger? Maximal unrealistisch, denn der Nimbus ist negativ belegt, da der Apostel als derjenige gilt, der Jesus an die Römer verriet. Aber stimmt das wirklich? Einige Kenner der Bibel sagen nein. Sie nehmen Judas ausdrücklich in Schutz und sehen in ihm alles andere als einen missgünstigen Zeitgenossen.
Im Zweifel für den Angeklagten
Zum Kanon des katholischen Glaubens gehört die Annahme, dass Judas Askariot Jesus Christus verraten hat. Geschehen angeblich im Garten Gethsemane, wo Judas den Heiland zunächst an die Hohepriester verriet, die ihn dann den Römern übergaben. Es folgten Gefangennahme und letztlich der Kreuzestod. Judas´ Belohnung umfasste angeblich 30 Silbermünzen. So verkünden es die vier Evangelien in übereinstimmender Weise. Demnach sind Zweifel ausgeschlossen. Oder etwa nicht? Der österreichische Theologe Wolfgang Treitler hegt besagte Zweifel und spricht sich für eine Neuinterpretation der betreffenden Bibelpassagen aus. Damit nicht genug: Treitler weigert sich, Judas zum Sündenbock zu erklären, sieht er in Achariot doch keinen Verräter, sondern vielmehr einen engen Verbündeten von Jesus.
Die Wurzel des Antisemitismus
Zwar ist sich der katholische Geistliche sicher, in Judas eine historisch verbürgte Figur zu erkennen, doch an einen Überzeugungstäter mag er nicht glauben. Vielmehr gelangt Treitler zu der Einsicht, dass die betreffenden Bibelpassagen nachträglich in den Gesamtkontext eingefügt wurden. Nachträglich meint die Hinzufügung der Judas-Geschichte zu einem bereits abgeschlossenen Plot. Fragt man nach dem Grund, bemerkt der Wiener, dass die Judas-Denunzierung „gut dazugepasst“ habe. Es handelte sich also um eine Zeitgeist-motivierte Tat. Mit selbiger sprach man die Römer quasi von der Schuld am Tode Jesu frei, während den Juden der schwarze Peter zugeschoben wurde. Folglich habe man an Judas nicht zuletzt aufgrund seines Namens ein passendes Exempel statuieren können.
Treitler sieht in Judas gar den „personifizierten Juden“. Folge war die Verdammung der jüdischen Religion und seiner Anhänger, die zu Feinden des christlichen Glaubens erklärt wurden. Nicht umsonst stammt der Vorwurf, Juden seien „ein Volk von Gottesmördern“ aus der Lehre des klerikalen Anti-Judaismus. Die im zweiten Jahrhundert formulierten Vorwürfe gelten als die Wurzel des Antisemitismus, der bis heute seine Blüten treibt. Schon damals brannten aufgrund falscher Anschuldigungen Synagogen und Pilgerstätten.
Ein Kuss und seine Folgen
Auch bei einer anderen Schlüsselszene der biblischen Historie appelliert Wolfgang Treitler an die Toleranz der Lesenden und Deutenden. Es handelt sich um die Kuss-Szenerie im Garten Gethsemane. Hier küsst Judas angeblich Jesus, um ihn als Verräter zu outen. Vorausgegangen war die Festlegung des Kusses als Erkennungszeichen für den vermeintlichen Gotteslästerer Jesus. Treitler zweifelt nicht am eigentlichen Kussvorgang, misst ihm aber gänzlich andere Bedeutung zu. Demnach diente der Kuss der Ermutigung, keineswegs der Denunzierung. Jesus sollte sich darin bestätigt fühlen, als Messias aufzutreten. Genau hierfür stand in der jüdischen Tradition der Kuss als stellvertretende Geste. Er war ein Zeichen der Ehrerbietung und Anerkennung fremder Stärke.
Jedes Ende ist ein Anfang
Im nachgeschalteten Kreuzesleid samt Dahinscheiden Jesu sieht Wolfgang Treitler nicht in erster Linie ein trauriges Ereignis denn vielmehr den Startpunkt für etwas Neues. Denn jedes Ende ist ein Anfang. Treitler weiß das und bescheinigt Judas, der Auslöser einer neuartigen Bewegung zu sein, indem er durch sein Vorgehen den Weg für eine Novellierung der Geschichte bereitete. Konkret hätte es ohne das Sterben Jesu keine Auferstehung gegeben. Und ohne Auferstehung kein Osterfest – der höchste Feiertag im christlichen Kalender. Steckt hinter der Übergabe von Jesus Christus an die Römer gar ein göttlicher Plan, um den Menschen den rechten Weg zu weisen? Hat Gott seinen Sohn geopfert, um Erlösung herbeizuführen? Und um das Böse im Menschen zu entlarven?
War Judas der Arm Gottes?
Exakt dieser Meinung ist Walter Jens. Der Literaturhistoriker hat Judas ein ganzes Buch gewidmet („Der Fall Judas“) und fordert darin ausdrücklich zur Seligsprechung seines Protagonisten auf. Warum? Weil man ihm zu Dank verpflichtet sei. Deshalb, weil Judas dabei behilflich war, Gottes Plan von der Läuterung der menschlichen Rasse in die Tat umzusetzen. Der Verrat sei ein übergeordneter Befehl gewesen, eine göttliche Fügung und damit quasi höhere Gewalt. Gott habe einen weltlichen Helfer gebraucht, um sein Ziel in die Praxis überführen zu können. Jener Umstand bezichtigt Judas zwar der Mittäterschaft, aber nicht der alleinigen Verantwortung. Tatsächlich habe Judas mit seiner Aufgabe gehadert, da er Jesus freundschaftlich zugetan war.
Verehren statt verdammen
Jene Verbundenheit spielt eine wesentliche Rolle, denn Judas wurde explizit wegen seiner Verehrung des Messias als Delinquent ausgewählt. Der Akt besitze daher den Status einer „göttlichen Prüfung“, wie Walter Jens es bereits in den 1970er-Jahren formulierte. Für Jesus, für Gott und die Kirche habe Judas „eine immens wichtige Rolle gespielt“, so Jens. Das nachfolgende „Heilswerk“ hätte sich ohne die Kollaboration nicht ereignen können, denn „ohne Judas kein Kreuz, ohne das Kreuz keine Erfüllung“, formuliert Walter Jens abschließend. Ergo müsse man Judas „verehren statt ihn zu verdammen“.