Gott sieht alles! Was für die einen wie eine verheißungsvolle und aufbauende, ja tröstende Botschaft göttlicher Liebe klingt, ist für andere eine erschreckende Drohung, nirgendwo vor Gottes strafendem Blick sicher zu sein. Resultierend aus großelterlicher (mindestens grauer) Erziehung, die zum Zweck hatte, Kindern das „brav Sein“ beizubringen, fällt es heute vielen Gläubigen schwer, eine gesunde Beziehung zum allsehenden Gott aufzubauen.
Wer jedoch die Geschichte hinter der Aussage „Du bist ein Gott, der mich sieht“ kennt, versteht schnell, dass der erhobene Zeigefinger Gottes in den Bereich mittelalterlicher Mythen gehört – und am besten für immer dort bleibt.
Drohung oder Zuversicht?
Viele Gläubige der christlichen Gemeinde sind mit einem Gottesbild groß geworden, das eine unilaterale Beziehungsebene beschreibt. Sei so und so, dann gibt dir Gott das und das. Benimm dich, dann wirst du errettet. Hiermit verbunden der Appell, nur das zu tun, was Gott gefällt, da er eh alles sieht und… Ja was denn eigentlich? Er es mir vorhalten wird? Er mich fallen lassen wird, wenn ich mal einen Fehler mache? Schlimmer noch – was ist, wenn ich mich einsam fühle und allein bin? Dann ist Gott doch der Einzige, der mir noch helfen kann, oder?
Eine angstmachende Allmachtsgestalt führt im schlimmsten Fall dazu, dass man beginnt, sich für seine Taten vor Gott zu schämen, ähnlich, wie es Kain nach dem Mord an seinem Bruder Abel ging (1. Mose 4). Gott hat jedoch keinen moralischen Zeigefinger, mit dem er in der Wunde seiner Kinder bohrt.
Er will dich trösten, dich ermutigen, wieder aufzustehen, dir eine Zukunftsoption zeigen, wie Das Vater unser es lehrt: Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit. Wie also ist der Satz „Du bist ein Gott, der mich sieht“ nun zu verstehen? Werfen wir einen Blick auf die Bibelstelle.
Hager, die Sklavin
In 1. Mose 16 ist von Abraham und seiner Sara die Rede, die zu diesem Zeitpunkt noch Abram und Sarai genannt werden, da sie noch nicht zu den Stammeseltern des Volkes Israel geworden sind. Hierin liegt auch das eigentliche Problem, denn Sarai ist unfruchtbar. Ohne die Möglichkeit Kinder zu bekommen, ist das mit der Stammesgründung – sagen wir schwierig. Daher empfiehlt sie ihrem Mann Abram, er solle ihre ägyptische Sklavin Hager schwängern. Was Hager selbst von der Rolle als Leihmutter hält, ist nicht überliefert.
Sarai wird im Laufe der Schwangerschaft das Gefühl nicht los, dass ihrer Sklavin die Wichtigkeit der Schwangerschaft und somit ihrer eigenen Rolle zur Familiengründung immer größer wird und Abram eventuell sogar Gefühle für Hager zu entwickeln scheint. Daher sagt sie ihrem Mann, welche Gefahren sie in Bezug auf Hager sieht.
Abram erwidert, dass sie selbst entscheiden muss, was richtig ist, um ihre Sklavin wieder an ihre eigentliche Rolle zu erinnern. Und so beginnt Sarai, Hager zu demütigen (1. Mose 16, 6). Wie genau sie das anstellt, ist nicht nachzulesen. Hager, die diese psychische Belastung nicht aushält, flieht in die Wüste und irrt ziellos umher, bis sie eine Oase findet, an der sie Kraft tanken kann und zur Ruhe kommt.
Gottes Antwort und Zielrichtung
Im Schutz der Oase erscheint Hager der Engel Gottes, der sie tröstet und ihr eine großartige Zukunft in Aussicht stellt, wenn sie umkehrt und zurück zu Abram und Sarai geht. Die versprochene große Nachkommenschaft scheint Anreiz genug für Hager zu sein, umzukehren, auch wenn das bedeutet, dass sie sich im schlimmsten Fall weiterhin den Demütigungen Sarais aussetzen muss.
Noch größer scheint jedoch die Zuversicht, die ihr der Engel mit einem Auftrag gibt. Sie soll ihren Sohn Ismael nennen, weil Gott Hagers Elend sieht. Daraufhin antwortet sie den Satz „Du bist ein Gott, der mich sieht“. Sie, die Sklavin, die Geflüchtete, wird von Gott gesehen!
Gott sieht dich!
In Zeiten größter eigener Unsicherheit, wenn es dunkel ist und die Zukunft sich deinem Blick entzieht, ist es das liebevolle Trösten Gottes, der auf dich, sein Kind, schaut. Nicht der Moralismus vorangegangener Generationen, nicht die drohende Perspektive eines falsch verstandenen Gottesbildes.
Es ist die Zuversicht spendende Liebe eines Gottes, der für die Schwachen eintritt, der Perspektiven aufzeigt und dich in all deiner Zerrissenheit annimmt. Ein Gott, der dir sagt: „Ich sehe dich in all deiner Sorge, deiner Verzweiflung, deinen Ängsten und deiner Unsicherheit“. Und damit nicht genug. Es ist auch der Gott, der tröstend zu dir spricht: „Ich bin bei dir. Ich begleite dich durch deine Verunsicherung.“
Mit der Zukunftsaussicht des Engels war für Hager noch lange kein Happy End in Sicht. Sie wusste, dass sie sich im schlimmsten Fall zurück in die quälende Unterdrückung ihrer Herrin begeben muss. Die weitreichende Zuversicht ihres Gottes in Zeiten größter Einsamkeit, allein in der Wüste, gab ihr jedoch die nötige Zuversicht, diese kleine Weile zu durchstehen. Engel erscheinen heutzutage selten, aber starke Gebete haben das Potenzial, Gottes Nähe zu spüren.
Gott sieht dich – mit all deinen guten und schlechten Seiten. Es liegt an dir, diese Nachricht als verstörend oder als große Befreiung zu verstehen. Sicher – Gott sieht auch deine Fehler und Unzulänglichkeiten, aber die sieht er ja eh! Und er sagt liebevoll zu dir: „Du brauchst dich nicht zu verstecken. Ich habe es gesehen und es ist ok. War zwar nicht gut, aber ich bin bei dir. Nächstes Mal machst du es anders.“ Und vergiss nicht – er sieht auch deine guten Seiten!
Gott kennt auch deiner Einsamkeit. Und wie Hager, will er auch dir Großes verheißen, denn er ist ein Gott, der dich sieht!